Gedenken ohne Grenzen – Vormoderne Memorialkulturen zwischen Bayern und Italien

Gedenken ohne Grenzen – Vormoderne Memorialkulturen zwischen Bayern und Italien

Organisatoren
Dieter Weiß / Markus Müller, Institut für Bayerische Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte mit besonderer Berücksichtigung des Mittelalters, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
Vatikanstadt
Land
Vatican City State (Holy See)
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.02.2022 - 26.02.2022
Von
Dominik Berger / Markus M. Böck, Institut für Bayerische Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Vortragsreihe warf einen vielseitigen und epochenübergreifenden Blick auf transalpine Gedenkkulturen in Europa, um neue Perspektiven auf das bisher vermehrt aus der mediävistischen Perspektive betrachtete Phänomen „Memoria“ zu gewinnen.

Der Campo Santo Teutonico in der Vatikanstadt erwies sich als idealer Tagungsort, denn er beherbergt nicht nur den Friedhof deutschsprachiger Länder, sondern seit 1888 auch das Römische Institut der Görres-Gesellschaft (RIGG). Dieses hat es sich zur Aufgabe gemacht, den wissenschaftlichen Austausch, insbesondere denjenigen zwischen theologischen und historischen Disziplinen, zu fördern. Außerdem unterhält es in seinen Räumlichkeiten eine umfangreiche Forschungsbibliothek. Zur Eröffnung stellte Johannes Grohe, der Vizedirektor des Hauses, die folgenden Vorträge in Kontinuität zur 2014 ebenfalls am Campo Santo Teutonico abgehaltenen Tagung „Bayerische Römer – römische Bayern“.

Nach dankenden Worten von Dieter Weiß führten MARKUS MÜLLER und MICHAEL HETZ (München) in das Tagungsthema ein. Sie verorteten den Begriff der Memoria in der aktuellen Forschung und arbeiteten Charakteristika heraus; exemplarisch stellten sie Otto Gerhard Oexles Konzeption von Memoria als „totales soziales Phänomen“ vor. Insbesondere sei es eine gemeinsame, in weiten Teilen religiöse Weltanschauung, die die Grundlage permanenten Gedenkens bilde. Die Memorialpraxis sei deshalb wesentlich auf Überzeitlichkeit angelegt und oszilliere zwischen Ortsabhängigkeit und Ortsunabhängigkeit. Die Reflexion der Praxis der christlichen Frömmigkeit sei Bindeglied dieses überregionalen und epochenübergreifenden Ansatzes der Tagung, der geografisch auf der Verbindung Bayern-Rom ruhe und in seiner Dimension die gesamte Vormoderne umfasse.

Zu Beginn der ersten Sektion umschrieb MARKUS MÜLLER im Eröffnungsvortrag anhand der Biografie der kinderlosen Mathilde von Canossa die Sicherung der Memoria einer italienischen Hochadeligen durch reiche Stiftungen an Klöster. Diese sollten ihr Andenken lebendig halten und ihr Seelenheil institutionalisieren. Die einflussreiche Markgräfin, die bis heute als Symbolfigur der Treue zum Heiligen Stuhl während des Investiturstreits bekannt ist, wurde als erste nicht heiliggesprochene Frau über dem Bodenniveau in der Basilika St. Peter im Vatikan bestattet. Müller verglich Mathildes Memoria mit der ihres wesentlich jüngeren zweiten Ehemanns, des Herzogs Welf II. von Bayern, dessen politische Schwäche sich auch in der kaum nachweisbaren eigenständigen Memoria widerspiegelt.

Anschließend zeigte RAINALD BECKER (München/Augsburg) auf, wie sich die Fugger durch Memorialstiftungen in Augsburg und Rom ein ewiges Andenken zu sichern suchten. Die Brüder Ulrich, Georg und Jakob Fugger schufen mit St. Anna in Augsburg eine Grablege und damit einen dynastischen Memorialort, der zum Schlüsselmonument der deutschen Renaissance werden sollte. Dieser zu jener Zeit als italienisch empfundene Baustil sei Ausdruck der transalpinen Absicherung des Seelenheils mit Ausrichtung nach Rom, wo die Fugger ebenfalls reiche Stiftungen tätigten.

CHRISTIAN LEITMEIR (Oxford) beschrieb anhand der Textanalyse eines frühen Requiems von Orlando di Lasso (†1594 in München), wie liturgische Memorialkompositionen den Tod des Einzelnen entindividualisierten und in die eschatologische Gemeinschaft einbanden. Die Feier des Requiems stelle somit einen perlokutiven Akt dar.

CORDULA BAUER (Paris) behandelte die Memorialpraktiken des Münchener Bürgertums im 17. und 18. Jahrhundert. Damals war es Brauch, bei Bruderschaften gegen ein zweckgebundenes Ewiggeld, also einen verzinsten Kredit auf unbestimmte Zeit, Gedenkmessen in Auftrag zu geben. Um das Fortdauern der bruderschaftlichen Gebete zu garantieren, wurde die Zahlungsverpflichtung nicht an eine Person, sondern an eine Immobilie gebunden, was auch bei einem Eigentümerwechsel die Annuitätendarlehen fortlaufen ließ.

In der zweiten Sektion konzentrierte sich die Tagung auf heilige Orte. MATTHIAS SIMPERL (Augsburg) lenkte den Blick auf die Translation römischer Märtyrerreliquien von Rom nach Bayern während des 8. Jahrhunderts. Die der Überführung von Körperreliquien folgende Zurschaustellung der transferierten Romanitas sollte die bayerischen Sakralorte legitimieren. Fortdauerendes Gedächtnis wurde durch die zu diesem Zweck erstellten hagiographischen Schriften gesichert, die heute zu den wichtigsten literarischen Quellen am Übergang von Spätantike zu Frühmittelalter zählen.

Ebenfalls mit einem römischen Blutzeugen auf bayerischem Boden beschäftigte sich IRENE HOLZER (München). Ausgehend von den Quirinalien, die das Martyrium des Heiligen Quirinus und die Geschichte des Klosters Tegernsee behandeln, gab Holzer einen Einblick in ein Antiphonarfragment aus dem 12. Jahrhundert. Es zeigte sich, dass die Offizien zur Ehre des Klosterpatrons aus einer schablonenartigen Übernahme einheitlicher Texte unter Einsetzung des Märtyrernamens entstanden.

JULIA BURKHARDT (München) nahm das Auditorium mit auf eine virtuelle Pilgerfahrt. Dabei ging sie von der Sieben-Kirchen-Wallfahrt in Rom aus, stellte dann aber die Entwicklung zur geistigen Pilgerfahrt durch Veränderung der Ablasspraxis sowie durch bildliche und bauliche Repräsentation der Rompilgerorte dar. Anstelle der Pilgerfahrt per pedes konnte eine in Regelwerken festgelegte Geldsumme entrichtet werden, die in etwa den Reisekosten entsprochen hätte.

Überall wollte man den Urorten des Heilsgeschehens begegnen, weshalb sich auch nördlich der Alpen die Loretofrömmigkeit ihren Weg bahnte. FRANK MATTHIAS KAMMEL (München) stellte in diesem Zusammenhang den von den Jesuiten geförderten Bau von Loretokapellen auf bayerischem Boden vor, bei denen es sich um Nachbildungen des Hauses Mariens in Nazareth handelt. Die daraus resultierende religiöse Praxis stelle eine innige Verbindung von Heilsgeschichte und Seelenheil her, so Kammel.

MICHAEL HETZ eröffnete die Sektion zur dynastischen Memoria mit einem Vortrag zu Berthold V. von Andechs, dessen Geschlecht durch Stiftungen an die Klöster Dießen, Banz und Langheim sich dynastisch und eschatologisch zu verewigen suchte. Berthold selbst ließ als Patriarch von Aquileia nach der Heiligsprechung seiner Nichte Elisabeth von Thüringnen ihr zu Ehren mehrere Sakralbauten errichten. Die Memorialtypographie des Hauses Andechs-Meranien lasse Einsichten in die Fokusverschiebung von der Sorge um die dynastische Memoria hin zur Heiligenverehrung zu.

ANTONIO VERARDI (Helsinki) spannte den Bogen zwischen römischer Liturgieordnung im 8. Jahrhundert und Stiftungen durch europäische Fürsten wie den bayerischen Herzog Tassilo III. Geistliches Gut, so die Hoffnung, konnte unabhänig von veränderten politischen Verhältnissen fortbestehen. Verardi zeigte, wie Memorialisierung durch Benutzung von Gegenständen, wie den Tassilokelch, geschehen konnte.

Wie Memorialpraxis aussah, wenn Angehörige überraschend im Ausland verstarben, beschrieb BRITTA KÄGLER (Passau) anhand des bayerischen Prinzen Philipp Moritz und dessen Mutter Kurfürstin Therese Kunigunde. Als Phillip Moritz 1717 in Rom verstarb, wurde er auch dort beigesetzt, während in Bayern sein Totengedenken simultan ohne seine leiblichen Überreste stattfand. Die römische Bestattungszeremonie wurde dabei deutlich nüchterner gehalten als das Gedenken in München, was zur Frage führt, inwiefern dynastische Memoria über persönlichem Gedenken stand.

In der vierten Sektion zur liturgischen Memoria interpretierte NICKI SCHAEPEN (Bad Schussenried) das Altargemälde des Barockmalers Caravaggio vom Martyrium des Evangelisten Matthäus in San Luigi dei Francesi überzeugend als gemalte Totenliturgie. Besondere Betrachtung fand das Nebeneinander dreier Zeitebenen, die sich in dem Gemälde fänden. Auf elegante Weise konnte Schaepen zeigen, wie Caravaggio Berufung, Vollendung und Tod in ihrer memorialen Dimension miteinander verflocht und wie sich dieser Bezug auf die heiligen Sakramente im Gemälde spiegelt.

P. UWE MICHAEL LANG O.C. (London) ging der Veronica-Verehrung in bayerischen Diözesanmissalien im 15. und 16. Jahrhundert nach. Er bearbeitete die These zur Veronika als „sichtbares Memoriale Christi“, wodurch das Schweißtuch gleichsam zur Jesus-Reliquie werde.

HARALD BUCHINGER (Regensburg) stellte eine duale Ausdeutung im liturgischen Gedenken der Patrone Regensburgs vor, das sowohl universell und auf die Kirche Bezug nimmt als auch vor Ort identitätsstiftend wirkte. Das Petrus-Patrozinium des Doms verweise klar auf Rom und wurzle auf der bonifatianischen Kirchenreform. Die verehrten Heiligen Emmeram, Wolfgang und Dionysius prägen dagegen die Regensburger Lokalidentität. Durch liturgische Memoria sei sowohl das Gedenken an den Apostelfürsten wie auch dasjenige an die Patrone wirksam perpetuiert worden.

BARBARA EICHNER (Oxford) stellte süddeutsche Klöster – vor allem am Beispiel der schwäbischen Abtei Irsee – als italienische Kulturträger vor. Mittels eigener Requienkompositionen römischen Stils hätten sie die liturgische und musikalische Praxis in Bayern wesentlich geprägt.

In der Abschlussdiskussion sammelte MARK HENGERER (München) die Ergebnisse, indem er in den Kategorien von Zeit, Personen und Orten die Praxis des Gedenkens anhand deren stetiger Aktualisierung und Abbrüche ordnete, wobei die Sonderrolle Roms nochmals herausgestellt wurde. Drei Themen, die die Tagung immer wieder berührte, unterschied er systematisch: Zum einen sei ein mehrdimensionaler Zeitbegriff erkennbar, der sich in Bezug auf die Memoria zwischen Vergangenheit, Gleichzeitigkeit und Überzeitlichkeit bewegte. Ebenso präsent sei das Thema Familie, bei dem es in den Memorialkulturen ein Spiel zwischen Singular und Plural, zwischen Individuum und Dynastie gebe. Als drittes Thema bewegten die Tagung die Orte und Räume von Memoria. Durch den steten Wechsel von Kontinuität und Diskontinuität sowie statischen und dynamischen Praktiken sollte die Grundausgerichtetheit auf das Eschaton in der Gegenwart verankert werden.

In seinem Abschlussvortrag zeichnete DIETER WEISS (München) das fränkische Bamberg als ein zweites, deutsches Rom nach. Nicht nur die Siebenzahl der Hügel der vom Kaiserpaar Heinrich und Kunigunde zum Bischofssitz erhobenen Stadt verweise auf Rom, sondern auch weitere stadtplanerische Maßnahmen und künstlerische Details wurden nach römischen Muster entworfen. Dies kumulierte nicht zuletzt in der Wahl des Bamberger Bischofs Suidger zum Papst Clemens II. Als Grablege wählte er nicht die Vatikanischen Grotten, sondern den Bamberger Dom.

In seinen Abschlussworten dankte der Institutsdirektor Monsignore Stefan Heid (Rom) den Organisatoren für die gelungene Veranstaltung. Die Tagung vereinte in ihren Beiträgen neue Erkenntnisse der Landesgeschichte, Mediävistik sowie Rennaisance- und Neuzeitforschung mit solchen aus der Liturgie- und Musikwissenschaft sowie der Theologie. Insbesondere die weitere akademische Auseinandersetzung mit dem Memorialwesen konnte somit gefördert werden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Johannes Grohe (Rom) und Dieter J. Weiß (München)

Einführung ins Thema

Markus C. Müller (München) und Michael Hetz (München)

Erste Sektion: Stiftungen für Seele und Leib
Moderation: Alexander Koller, DHI Rom

Markus C. Müller (München): Mathilde von Tuszien und Welf II. von Bayern. Klösterliche Memoria eines unglücklichen Paares

Rainald Becker (München/Augsburg): Die Memorialstiftungen der Fugger in Augsburg und Rom. Kulturelle Praktiken zwischen Germania und Romania

Christian Leitmeir (Oxford): Pro defunctis: Lassos frühe Toten- und Memorialkompositionen im Zeichen von Über- und Entindividualisierung

Cordula Bauer: Ewiggeld und Memoria Zur monetären Dimension von Mitgliedschaft in Münchener Bruderschaften des 17. und 18. Jahrhunderts

Zweite Sektion: Heilige Orte
Moderation: Johannes Grohe (Rom)

Matthias Simperl (Augsburg): Stadt der Päpste und der Heiligen
Texte und Reliquien als Vergegenwärtigungen Roms im frühmittelalterlichen Bayern

Irene Holzer (München): Von Rom nach Tegernsee: Musik als Memorialkultur am Beispiel des Hl. Quirinus von Tegernsee

Julia Burkhardt (München): Rom ist überall: Die Imagination der römischen Stationskirchen als Frömmigkeitspraxis in süddeutschen Klöstern und Kirche

Frank Matthias Kammel (München): Die Loreto-Frömmigkeit. Genesis, Entfaltung und bayerische Ausprägung

Dritte Sektion: Dynastische Memoria
Moderation: Dieter J. Weiß (München)

Michael Hetz (München): Berthold V. von Andechs, Patriarch von Aquileia. Spurensuche einer europäischen Memoria

Andrea Antonio Verardi (Helsinki): Tra liturgia e status: Memoria, commemorazione e preminenza sociale nella Roma altomedievale

Britta Kägler (Passau): Im Ausland verstorben: Memorialkultur zwischen dynastischem Anspruch und Begräbnispraxis

Vierte Sektion: Liturgische Memoria
Moderation: Markus C. Müller (München)

Nicki Schaepen (Bad Schussenried): Gemalte Totenliturgie. Caravaggios Martyrium des Hl. Matthäus im Spiegel der nachtridentinischen Theologie

P. Uwe Michael Lang (London): Die liturgische Verehrung der römischen Veronica in bayerischen Diözesanmissalien im Übergang zur frühen Neuzeit

Harald Buchinger (Regensburg): Zum liturgischen Gedenken der Regensburger Patrone. Universale Bedeutung und lokale Identität

Barbara Eichner (Oxford): Italienische Requienkompositionen in den Musikbeständen bayerischer Klöster

Abschlussdiskussion
Moderation: Mark Hengerer (München)